Die Entwicklung der Eurocodes hat Fachleute aus ganz Europa zusammengebracht. Was es mit der Revision der Eurocodes auf sich hat und wie man den Nachwuchs stärker fördern kann, darüber spricht Professorin Ulrike Kuhlmann, Leiterin des Instituts für Konstruktion und Entwurf der Universität Stuttgart, mit den Schwerpunkten Stahlbau, Holzbau und Verbundbau.
Frau Kuhlmann, welchen Einfluss hat die 2. Generation der EC‘s auf die Lehre und auf die Stahlbauindustrie?
Die Überarbeitung der Eurocodes hatte zum Ziel, eine größere Anwenderfreundlichkeit zu erreichen (Stichwort „Ease of Use“). Das hat zumindest im Eurocode 3 zu einer deutlicheren Strukturierung und zu Hilfestellungen in Form von Flussdiagrammen geführt, die für die Lehre, aber auch für die Praxis, den Umgang mit der Norm einfacher machen. Außerdem sind an einer Reihe von Stellen Weiterentwicklungen durch neue Forschungsergebnisse eingeflossen, die m.E. für die Zukunft des Stahlbaus wichtig sind. Ich möchte als Beispiel die konsequente Ergänzung aller Teile im Eurocode 3 für höherfeste Stähle bis einschließlich S700 nennen.
Was werden aus Ihrer Perspektive die größten Herausforderungen in naher Zukunft für die Lehre und die Studierenden sein?
Eine der großen Herausforderungen in naher Zukunft ist die Digitalisierung. Schon heute wird ja kaum noch etwas „von Hand“ gerechnet. Und die digitale Umsetzung in Konstruktion und Fertigung ist auch schon weit fortgeschritten, siehe BIM. Unsere Studierenden sind im Prinzip auch darauf vorbereitet und verstehen es meist sehr gut, mit den digitalen Hilfsmitteln umzugehen. Die größere Herausforderung scheint mir die mangelnde Erfahrung mit dem echten Werkstück und der Praxis. Durch das einfache „selber rechnen“ gewinnt man auch ein „Gefühl“ für die Größenordnung im Ergebnis. Man kann sich einen komplizierten Anschluss sehr gut auf dem Papier zeichnen lassen, ob man das aber auch bauen kann, ist eine andere Frage. Wie man das schafft, die Studierenden trotz Digitalisierung die notwendigen Erfahrungen sammeln zu lassen, wäre für mich für die Zukunft wichtig zu lösen.
Was ergibt sich hieraus für die Zusammenarbeit zwischen Hochschulen und der Stahlbauindustrie?
Wie gesagt, wäre es gut, Wege der Zusammenarbeit zum Beispiel in Form von gemeinsam betreuten Bachelor- oder Masterarbeiten zu finden, damit Studierende praktische Erfahrungen sammeln können; ganz abgesehen davon, dass das Erleben, wie in der Praxis etwas Neues gebaut wird und daran beteiligt zu sein, nach wie vor auch Stolz und Begeisterung wecken kann. Ein anderer wichtiger Punkt, um bei der jungen Generation Interesse zu wecken, ist die konkrete Umsetzung von Nachhaltigkeitsanforderungen. Ressourcenschonung und Klimaschutz sind echte Anliegen in dieser Generation. Stahlbau hat dabei nicht unbedingt das beste Image, das man m.E. auch nicht nur mit schönen Worten aufbessern kann, sondern man braucht glaubhafte Konzepte.
Welche Unterschiede gab es aus Ihrer persönlichen Perspektive bei der Überarbeitung des Eurocode 3 zu der 1. EC-Generation?
Ich war selbst schon Teil des Projektteams für die Entwicklung der jetzt gültigen Norm und kann sagen, dass das auch schon eine sehr positive Erfahrung einer echten europäischen Zusammenarbeit war, bei der man vom Erfahrungsschatz der Experten aus den verschiedenen beteiligten Ländern profitieren konnte. Jetzt war für mich der Prozess der Überarbeitung und Weiterentwicklung der Norm nicht nur wieder eine echte europäische Zusammenarbeit, sondern diese war weit mehr als beim ersten Mal durch Transparenz und demokratischer Beteiligung einer größeren Fachöffentlichkeit gekennzeichnet. Man hat sehr systematisch Kommentare eingesammelt, nicht nur zur jetzt gültigen Norm, sondern auch zu allen Zwischenstufen der neu entwickelten Entwürfe. Hinzu kommt die Verpflichtung, auch alle Änderungen schriftlich nachvollziehbar zu begründen, während eine Hintergrunddokumentation beim ersten Mal nur zu den ursprünglichen Vornorm-Entwürfen existiert.
Welche der Veränderungen und Neuerungen in der 2. EC-Generation, speziell EC3 Neufassung, sind für Sie die größten Erfolge?
In der Entwicklung der 1. Generation gab es gerade bei den Stabilitätsnachweisen viele verschiedene konkurrierende Ansätze, nicht zuletzt aufgrund eines wissenschaftlichen „Streits“ zwischen verschiedenen europäischen Forschergruppen. Uns ist es tatsächlich gelungen, bei allen auch traditionell unterschiedlichen Ansätzen zu einer gemeinsamen Lösung zu finden. Auf diese Art von konkreter Harmonisierung bin ich stolz. Ein weiterer, für die Zukunft wichtiger Schritt ist für mich der neue Teil 1-14, der Stahlbaubemessung mit Hilfe von FE- Berechnung behandelt und das nicht nur für die Schnittgrößenermittlung, sondern auch für die Nachweisführung. Und schließlich sind wir jetzt dabei, auch Regeln für die Bewertung von Bestand zusammenzutragen.
Was wird sich für Sie persönlich im Jahr 2023 verändern?
Ich werde zum Ende des Jahres als Professorin an der Universität pensioniert. Dadurch wird sich ein wichtiger Teil meines Lebens verändern. Das heißt nicht, dass ich „den Griffel ganz fallen lasse“, es werden noch Forschungs- und Doktorarbeiten zu Ende zu führen sein, dort, wo meine Erfahrung noch hilft, werde ich in der Normung auch unterstützen und ich bin ja auch noch in meinem Ingenieurbüro engagiert. Aber insgesamt sollte es weniger werden und mir die Chance geben, mich auf Themen zu konzentrieren, die mir Spaß machen und vielleicht auch im Rahmen meiner Akademiemitgliedschaften etwas über den Ingenieurfokus hinaus gesellschaftliche Fragen betreffen.
Interview erschienen in: Stahlbau verbindet 1 | 2023.